Sterben Gebärdensprachen aus ?, Mai 2003


                                     Sterben Gebärdensprachen aus ?

(von Onno Crasborn)

Beim letzten Mal schrieb ich etwas über die Entwicklung von Sprache: wie und wann ist die erste Sprache entstanden? In den letzten Jahren gab es auch viele Diskussionen über das Entgegengesetzte: das Aussterben von Sprachen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt werden in der Welt ungefähr 6.000 verschiedene Sprachen gebraucht, aber es wird erwartet, dass es in 100 Jahren nur noch 3.000 Sprachen sein werden, und dass auch diese Anzahl schnell weniger werden wird.

Sprachen sterben selten aus, indem eine ganze Bevölkerungsgruppe plötzlich verschwindet, durch eine Katastrophe oder einen Krieg. Meistens geschieht das Aussterben ganz allmählich: Menschen fangen langsam an, immer mehr eine andere Sprache zu benutzen. Es ist sehr üblich, dass Menschen mehrere Sprachen beherrschen. Die Hälfte der Weltbevölkerung wächst mit mehr als einer Muttersprache auf, so wie es auch im Gehörlosenunterricht in der westlichen Welt propagiert wird. Oft geschieht dies in sehr stabilen Verhältnissen, doch manchmal werden Menschen durch ökonomischen und sozialen Druck dazu gebracht, ihre eigene Sprache zugunsten der in der Umgebung dominierenden Sprache fallen zu lassen. In Nordamerika werden zum Beispiel viele Indianersprachen immer weniger benutzt und erhält das Englische eine immer wichtigere Rolle.

Eine Sprache ist erst richtig ausgestorben, wenn der letzte Sprecher stirbt, würde man vielleicht sagen. Man kann es aber viel früher erkennen, wenn eine Sprache zum Tode verurteilt ist. In dem Augenblick, in dem eine neue Generation Kinder die Sprache nicht mehr als Muttersprache beherrscht, sieht es sehr düster aus.

Zumindest sieht es düster für die Sprache aus, und für die Kultur, die die Sprache wiederspiegelt. Einige sagen, dass es für die Sprecher dieser Sprache gerade sehr gut aussieht: sie bekommen nämlich durch den Gebrauch einer dominanteren, größeren Sprache die Möglichkeit zu einem Kontakt mit viel mehr Menschen. Jeder, der Gebärdensprache anwendet oder sie gerade lernt, macht die Erfahrung, dass Menschen auf ihn zukommen und sagen: "He, was schön, Gebärdensprache, ist die eigentlich international?" Wenn man erklärt, dass es viele verschiedene Gebärdensprachen gibt (man schätzt dass es etwa 120 sind), ist die Reaktion oft: "Ach, wie schade, es wäre so schön, wenn alle Gehörlosen auf der Welt miteinander kommunizieren könnten!"

Nun verstehe ich selbst nie so gut, warum es so vorteilhaft sein soll, wenn Menschen aus Finnland mit Menschen aus Singapur sprechen können, aber davon abgesehen, dem Wunsch, dass jeder die gleiche Sprache sprechen kann, liegen häufig zwei Missverständnisse zugrunde. Das erste Missverständnis ist, dass es von Nachteil wäre, wenn man mehrere Sprachen als Muttersprachen gebraucht, eine für zuhause oder in dem Dorf und eine für den Kontakt mit anderen Gemeinschaften. Sprachwissenschaftler und Psychologen konnten keine nachteiligen Auswirkungen entdecken: man bekommt davon keine gespaltene Persönlichkeit, es kostet nicht mehr Energie (wenn man sie als Muttersprache erlernt), und man beherrscht die Sprachen auch nicht auf einem niedrigeren Niveau, weil die Gedächtniskapazität begrenzt wäre.

Das andere Missverständnis ist, dass das einzige Ziel von Sprache das Vermitteln von inhaltlichen Nachrichten ist. "Kannst du mir eben das Salz geben?" Natürlich hat Sprache diese Funktion, aber zugleich hat das Sprechen einer bestimmten Sprache auch eine wichtige soziale und kulturelle Funktion. Man lässt damit erkennen, dass man Teil einer bestimmten Gruppe ist, und die Äußerungen in der einen Sprache haben für den Sprecher oft einen anderen Gefühlswert als die Äußerung in einer anderen Sprache. Mehrsprachigkeit ist also ein Vorteil!

Was mich betrifft, finde ich, dass das Aussterben einer Sprache eine traurige Angelegenheit ist, ein kultureller Verlust. Gebärdensprachen scheinen auf den ersten Blick glücklicherweise gut beschützt zu sein: der Gebrauch von Gebärdensprachen wird immer weniger unterdrückt, und Gehörlosengemeinschaften blühen mehr und mehr auf. Und doch steckt eine Schlange im Grase. Nach Meinung mancher Menschen werden medizinische Entwicklungen wie das CI dafür sorgen, dass Gehörlosengemeinschaften immer kleiner werden. CIs werden stets besser. Eines Tages werden Gebärdensprachen immer weniger werden, und schließlich können sie ganz verschwinden, weil jeder die gesprochene Sprache bevorzugt.

In den Niederlanden kann man NGT (Nederlands Gebaren Taal) noch nicht wirklich als eine bedrohte Sprache bezeichnen. Es gibt etwa 15.000 Benutzer, und auch für Kinder, die ein CI bekommen, ist Gebärdensprache unentbehrlich. Jetzt noch, auf jeden Fall. Die NGT wird also frühestens in 80 Jahren aussterben können.

Achtzig Jahre!! Aber trotzdem finde ich das keinen beruhigenden Gedanken.

(aus Woord en Gebaar, Niederländische Zeitung für Gehörlose, Nr. 4, Mai 2003, S.16, übersetzt aus dem Niederländischen von Uwe)

Copyright:  Woord en Gebaar / www.woordengebaar.nl


Anmerkung Liane und Uwe:

Der zuletzt von Crasborn geäußerte Gedanke wird nach unserer Einschätzung noch beunruhigender, wenn man bedenkt, dass Kinder mit CI nur selten die Gelegenheit erhalten, die Gebärdensprache zu erlernen. Alle Energie geht nach der Implantation in aller Regel in eine "intensive Hör-Sprachtherapie, damit die neuen Höreindrücke richtig erkannt werden", wie es beispielsweise in einem Faltblatt des neu gegründeten CI-Zentrums in Köln heißt. Sehr vielen Experten erscheint die Gebärdensprache für diese Kinder sehr wohl als entbehrlich.

Die weiter oben von Crasborn angesprochene wichtige kulturelle und soziale Funktion von Sprache möchten wir gerne unterstreichen und hinzufügen, Sprache, die man ohne Anstrengungen verwenden kann, mit der man jonglieren, sich selbst ganz ausdrücken kann, schafft zum einen die Grundlage für das Erlernen weiterer Sprachen und sie ermöglicht den Aufbau einer stabilen Ich-Identität.

Ingeborg Schunk, spätertaubt und selbst keine CI-Trägerin, schrieb einmal: "Was mir in den Zeiten vor dem CI immer besonders auffiel, dass die Gehörlosen ganz anders waren als die Schwerhörigen und Spätertaubten. Während wir uns meist darin gefielen, uns gegenseitig etwas vorzujammern, waren die Gehörlosen eine Gemeinschaft aus sehr selbstbewussten und fröhlichen Menschen. Sie schienen sich viel weniger als Behinderte zu fühlen als wir! Inzwischen habe ich auch öfter CI-Gruppen im Miteinander und Diskussionen erlebt, und sie verhalten sich nicht anders als die Schwerhörigen."

Florian Weber, schwerhörig, schrieb: "Ich hatte früher kaum Kontakt zu Gleichgesinnten. Dies hat sich vor ca. zweieinhalb Jahren geändert. Von da an sammelte ich viele Erfahrungen mit Schwerhörigen. Nicht zu übersehen war für mich, dass Schwerhörige überwiegend - nein, nicht alle - unter Hörenden verkehren. Dies unter dem Deckmäntelchen der Integration. In Wirklichkeit lebten sie zurückgezogen, isoliert und mit wenig Selbstbewusstsein. Für mich waren diese Erfahrungen sehr frustrierend, denn gerade davon wollte ich mich ja trennen. Ich erwartete nicht viel Neues bei den Gehörlosen, ging also mit wenig Optimismus in die Gehörlosenszene. Doch ich war überrascht. So viel Leben, Selbstbewusstsein, woher nehmen die Gehörlosen das nur ... fragte ich mich."

                                                                             Impressum: GIB ZEIT e.V., Kerckhoffstr. 127, 45144 Essen, E-mail: uwe.stosch (at) gibzeit.de                                                                                                                                              © GIB ZEIT  1997-2018,  Alle Rechte vorbehalten