Ein Goldgeschenk, April 2003

                     

                                             Ein Goldgeschenk

(von Petra Essink)

Unser erstes Kind Pepijn (jetzt 5) reagierte in meinem Bauch bereits stark auf Geräusche. Auf laute Musik oder laute Stimmen reagierte er direkt: er strampelte vernehmlich. Es schien so als ob er mir dann sagte: `Das ist nichts für ungeborene Kinder, Mam, mach dich mal schnell auf die Suche nach einem ruhigeren Platz für uns!` So vermied ich während der Schwangerschaft unseres zweiten Kindes Tonja (jetzt 2 ½) solche Art Gelegenheiten. Ein einziges Mal konnte ich dieser Situation nicht entkommen, als die Nachbarn eine Disko veranstalteten. Ich erwartete, so wie bei Pepijn, heftiges Getrappel gegen meine Bauchwand. Doch die lautstarken Sprecher hatten keine spezielle Auswirkungen auf dieses Kind. Ich dachte: Schön, das wird wohl ein herrlich ruhiges Kind, das sich gut gegenüber seiner Umgebung abschirmen kann. Kein Haar auf meinem Kopf dachte an ein taubes Kind. Ich war fünf Monate schwanger, als wir in ein größeres Haus umzogen. Den Rest der Schwangerschaft war ich vornehmlich damit beschäftigt, anzustreichen, zu zimmern, alles schön zu machen und einzurichten. Für eine Hochschwangere hatte ich viel Energie. Ich konnte nicht aufhören. Am 30. August 2000, meinem 33. Geburtstag, war das Haus fertig. Ich hatte meine neuen Nachbarn eingeladen. Wir aßen Kuchen im Garten. Von einem meiner neuen Nachbarn bekam ich das Buch "Stumme Stimmen" von Oliver Sacks.

Sechs Tage später, am 5. September, wurde Tonja geboren. Es war ein wundervoller Tag. Nachbarn saßen im Garten und nahmen einen Lunch. Jac, mein Mann, riß das Fenster auf und rief: `Es ist ein Mädchen!` Jubel stieg auf. Ich lag im Bett, müde aber glücklich. Ein kleines Mädchen in meinen Armen. Zwei helle blaue leuchtende Glasperlenaugen sahen mich an. Sie sah alles. Zuweilen fühlte es sich an, als ob ihre Augen durch mich hindurch sahen. Da ist etwas besonders mit ihr, dachte ich, aber was? Es machte mich irgendwie unsicher. Werde ich ihr gerecht werden können?

Als sie sieben Monate alt war fragten wir uns zum ersten Mal, ob sie wohl gut hört. Pepijn hatte, als er so alt war, begonnen, in Babysprache zu sprechen: ta ta, ba, ba. Tonja sagte bloß grrr und brrrr. Die Monate danach beschäftigten wir uns immer wieder mit Klingelchen, Klatschen und Singen. Manchmal schien sie zu reagieren, aber meistens tat sie es nicht. Mit zehn Monaten, im Juni, fand der Ewing-Test von der Beratungsstelle statt. Es zeigten sich keine deutlichen Reaktionen. Wir sollten uns aber nicht aufregen, wurde uns gesagt. Nach den großen Ferien sollten wir den Test noch einmal machen. Während unseres Urlaubs in Scheveningen waren wir selbst überzeugt, dass etwas mit ihrem Gehör war. Von unserem Urlaubsort aus fuhren wir mit Tonja zum audiologischen Zentrum nach Zwolle. Der Test, den sie dort durchführten, bestätigte unsere Vermutung: Tonja ist taub.

Ich erlebte einen Schreck und Erleichterung zu gleicher Zeit. Ein großer Strom von Fragen über Taubheit kam in Gang. In was für einer Gemeinschaft wird Tonja wohl leben? Was ist Gehörlosenkultur? Wie lebt es sich überhaupt in der Gehörlosenwelt? In den darauffolgenden Wochen haben wir in einem hohen Tempo alles über Gehörlosigkeit gelesen und erörtert, was wir zu fassen bekamen. Wir fingen mit meinem Geburtstagsgeschenk an: Oliver Sacks´ "Stumme Stimmen". Dieses Buch behandelt die große Bedeutung, die die Gebärdensprache für die Entwicklung von gehörlosen Kindern hat. Von dieser Bedeutung waren wir schnell überzeugt. Der Kurs Gebärdensprache für Eltern von gehörlosen Kindern begann etwa zur Zeit von Tonjas erstem Geburtstag. Und wir fanden heraus, dass von Guyot aus seit drei Jahren eine Gehörlosenabteilung in Zwolle eingerichtet worden war. Und das war gerade mal zehn Minuten mit dem Fahrrad von unserem Haus entfernt!

Nun, anderthalb Jahre später, sind wir um noch ein Kind reicher. Melchior wurde im Dezember 2001 geboren. Wir merkten schon bald, dass er gut hört. Und Tonja entwickelt sich gut. Sie kennt schon mindestens so viele Gebärden wie ihre hörenden Altersgenossen Wörter kennen. Im vergangenen Herbst habe ich begonnen, das Gebärdencafe in Zwolle zu besuchen. In diesem Augenblick überlegte ich mir, eine Ausbildung zur Gebärdensprachdolmetscherin zu absolvieren. Neben meinem Bett liegt das Buch: ´Spijkerschrift´ von Kader Abdollah. Langsam, als vielbeschäftigte Mutter, komme ich weiter mit diesem herrlichen Buch. Es handelt von einem Sohn, der ein Buch, das sein tauber Vater in Spijkerschrift geschrieben hat, versucht zu entziffern. Ich habe das Buch von meiner Schwiegermutter bekommen. Sie war irgendwo, wo der Autor seine Bücher verkaufte und signierte. Sie kam mit ihm ins Gespräch über ihre kleine taube Enkelin. Er schrieb die folgenden Worte ins Buch: ´Petra, du hast ein Goldgeschenk bekommen. Wunderbare Tonja! Klage niemals darüber, nicht einmal in deinem Herzen.`

Anmerkung von mir: Das Buch `Spijkerschrift` von Kader Abdollah erschien in den Niederlanden 2001. Es ist ein biografischer Roman über den Vater des Autors im Iran. Kader Abdollah war im Iran Physiklehrer, wurde nach der Machtübernahme von Khomeiny entlassen und flüchtete 1985 über die Türkei aus dem Iran. Er lebt seit 1988 in den Niederlanden in Zwolle und schrieb bereits mehrere Artikel und Bücher in niederländischer Sprache.

(aus Woord en Gebaar, Niederländische Zeitung für Gehörlose, April 2003, S. 13, übersetzt aus dem Niederländischen von Uwe)

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